DER SMARAGDGRÜNE TRAUM
Am Samstagmorgen wachte Vadim auf und blieb noch eine Weile mit geschlossenen Augen liegen: Er versuchte seinen Traum festzuhalten. Das, was er geträumt hatte, ließ sich aber nicht erfassen. Der junge Mann überlegte und bezeichnete den Traum nach der wunderbar schönen Erscheinung und dem glücklichen Gefühl im Schlaf als smaragdgrün. Auf irgendeine Weise war der smaragdgrüne Traum mit der Vergangenheit verbunden, mit den Ereignissen, die fünf Jahre zurück lagen. Damals arbeitete Vadim noch als Kraftfahrer in einer landwirtschaftlichen Kooperative in Kasachstan.
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In der Steppenweite herrschte der Winter. Plötzlich, nach klirrenden Frosttagen, stellte sich Tauwetter ein. Die Sonne schien, lustig tschilpten die Spatzen, und man hätte vergessen können, dass sich noch gestern niemand ohne Pelz und Handschuhe nach draußen getraut hatte.
Der Vorsitzende der Kooperative beschloss, das gute Wetter zu nutzen. Er schickte Vadim in die Gebietsstadt, um Ersatzeile für die Traktoren und Mähdrescher zu holen.
Erst am Abend erreichte der junge Mann sein Ziel. In einer Firma wurden die Kisten mit den benötigten Ersatzteilen auf seinen LKW geladen. Übernachten musste er bei seinen Bekannten in der Stadt, von wo er dann lange vor Sonnenaufgang den Rückweg einschlug.
Im Scheinwerferlicht schlängelte sich die Asphaltstraße durch die Steppe. Um eine Abkürzung zu nehmen, bog Vadim an einer Kreuzung mit einem schiefen Schild auf einen Schotterweg ein. Ihn trieb der Wunsch, schneller zu Hause zu sein. Am Abend versammelte sich die Dorfjugend zum Tanzen, und Vadim war seit kurzem aus dem Armeedienst zurückgekehrt. Er sehnte sich nach seiner Liebe, seiner Einzigen.
Bis zum Mittag war das Wetter herrlich, dann begann ein leises Schneegestöber, fegte unter die Räder seines Wagens. Nach einer weiteren Stunde fiel dicker Schnee, der Wind nahm an Stärke zu.
Schneesturm! Steppe, Wind, eine Schneewand und nichts mehr. Der Schotterweg war verschwunden. Vadims Herz hämmerte wild in seiner Brust. „Ich bin verloren!“ durchfuhr ihn ein Gedanke und bohrte in ihm.
Er beschloss, in westlicher Richtung zu fahren, weil er wusste: Parallel zum Schotterweg, auf dem er sich befand, lag eine Eisenbahn. Und da! Wie glücklich, wie freudig klopfte sein Herz, als er durch das Geheul des Schneesturms das rhythmische Klopfen der Waggonräder hörte. Danach hatte er noch mehr Glück: Er stieß nach einem Kilometer Fahrt auf eine kleine Eisenbahnstation.
Vor einem niedrigen Haus, aus dessen Fenster Licht durch das Schneegestöber drang, hielt er an, stieg aus und klopfte an die Tür.
„Wen hat es mit dem Sturm hergetrieben?“ Eine alte, grauhaarige Frau mit einer markanten Hakennase öffnete ihm die Tür. „Komm schon herein! Komm doch!“ sagte sie unfreundlich, trat einen Schritt zurück und ließ ihn durch die Tür. „Ich habe gerade den Ofen angeheizt, du lässt mir zu viel Kälte herein.“
Vadim trat in ein großes Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen. An einem heißen Ofen saß auf einem Holzhocker ein entzückendes Mädchen mit einem Männerwams über den Schultern und rieb sich die kalten, rot gefrorenen Hände.
„Guten Tag“, murmelte er und sah sich um. Die Alte stand hinter ihm und zupfte an ihrem schmutzigen, alten Jackensaum.
„Na, hast du dich verfahren?“ fragte sie. „Ihr, Kraftfahrer, werdet ja wie von Teufeln durch die Gegend getrieben. Komm herein, setz dich an den Tisch, wir werden jetzt Abendbrot essen!“
Zwei Tage noch wütete der Sturm. Gegen Abend des dritten Tages endlich beruhigte sich das Wetter. Vadim hatte es im Häuschen der Weichenstellerin Matrena Petrovna sehr gefallen. Auch wenn die Alte viel schimpfte, und er stundenlang im dunklen, kalten Schuppen Holz hacken musste, wäre er bereit gewesen, noch wesentlich mehr zu tun, nur um die schönen, leicht grünlichen Augen der jungen Larissa zu sehen.
Das war die Liebe, eine große, unruhige Liebe.
Spät abends am zweiten Tag sagte Matrena Petrovna zu Vadim: „Morgen früh fährst du! Du bist hier nicht auf Staatskosten. Nebenbei bemerkt ist mir nicht entgangen, wie du Larissa mit den Augen verschlingst. Wenn sie mir auch fremd ist, erlaube ich dir nicht, sie anzugrapschen, verstanden?!“
An demselben Abend aber betrank sich die Alte, sie war, wie man so sagt, stockbesoffen, erreichte kaum das Bett und schlief in ihrer Kleidung ein.
Vadim und Larissa saßen bis spät in die Nacht an dem angeheizten Ofen. Sie erzählte ihm alles über ihr Leben. Sie hatte eine ruhige und glückliche Kindheit und Jugend gehabt. Nur in den letzten Monaten war alles schief gelaufen. In dem Dorf, in dem sie gewohnt hatte, wurden von bösen Menschen Meinungen geäußert und verbreitet, dass Deutsche, Russen, alle, die nicht zu der angestammten Bevölkerung gehörten, hier nichts mehr verloren hätten. Davor hatten alle friedlich miteinander gelebt, zusammen Feste gefeiert und Freundschaften gepflegt.
Dann aber ging es los: nachts wurden den „Fremden“ die Fenster mit Steinen eingeschlagen, und bald wurde es auch tagsüber auf der Straße gefährlich.
„So mussten wir aus dem Dorf ausreisen, alles durch viel Arbeit Angeschaffte zurücklassen und wegfahren“, seufzte Larissa traurig am Schluss ihres Berichtes.
„Wie bist du bei Matrena Petrovna gelandet?“ fragte Vadim.
„Hierher, nach Kasachstan sind wir mit der ganzen Familie gekommen. Wir wurden hier aber in verschiedenen Familien untergebracht. Mich hat Matrena Petrovna aufgenommen. Sie schimpft viel, aber sonst ist sie eine gütige Frau. Schade, dass sie so viel Alkohol trinkt. Die Meinen wohnen nicht so weit weg von hier. Papa hat mich früher fast jede Woche besucht.“ Das Mädchen konnte die Tränen nicht verbergen. „Jetzt ist er aber nach Moskau in die Botschaft gefahren. Er beschäftigt sich mit unserer Ausreisegenehmigung nach Deutschland.“
„Also seid ihr Deutsche?“ fragte Vadim aufgeregt.
„Ja!“ das Mädchen zog den Kopf ein und Tränen flossen frei aus ihren Augen.
„Und? Sind Deutsche denn keine Menschen?“
„Ich bin ja auch…“
Und so kam es von selbst, dass Vadim erst ihr tränennasses Gesicht küsste, dann ihre Lippen zueinander fanden.
Am nächsten Morgen fuhr er weg. Larissa hatte er versprochen, sie in einer Woche wieder zu besuchen. Als er in sein Dorf zurückkam, entdeckte man plötzlich beim Abladen des LKWs eine beträchtliche Fehlladung. Er wurde des Diebstahls beschuldigt. Eine Erklärung hatte man schnell gefunden: Vier Tage unterwegs. Drei Tage befand er sich in Haft bei der Polizei, dann in Untersuchungshaft, und, bis man endlich alles geklärt und ihn freigelassen hatte, verstrichen noch zwei Monate. Wie hat er sich in dieser Zeit nach Larissa verzehrt! Wie oft machte er sich die bittersten Vorwürfe, dass er sich die Adresse der Alten nicht aufgeschrieben hatte!
Im April fuhr er zu der kleinen Bahnstation: Larissa war aber nicht mehr da, Matrena Petrovna auch nicht. Die neue Weichenstellerin, eine junge Frau, berichtete traurig lächelnd, dass die Alte am Zug verunglückt sei. Über Larissa wusste sie gar nichts. Vadim fuhr in die Kreisstadt, aber auch dort konnte man ihm nichts Vernünftiges mitteilen. Flüchtlinge gab es in der Gegend viele, nur ein Teil davon waren Deutsche. In den Listen, die man ihm zeigte, gab es kein Mädchen mit dem Namen Larissa. Wie viele Orte er dann auch abgesucht hatte – Larissa hat er nicht gefunden.
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„Vadim, wach doch endlich auf...“
Der junge Mann öffnete die Augen: Am Bett stand seine Mutter mit dem tragbaren Telefonhörer in der Hand. „Dein Freund David!“
Vadim legte den Hörer ans Ohr. Liebevoll lächelnd verließ die Mutter das Zimmer.
„Grüß dich! Pennst du etwa noch immer? Stark! So ein Leben hätte ich auch gern!“
„Ein Leben nicht besser als jedes andere“, knurrte der junge Mann gleichgültig.
Was hast du?“
„Vadim, Silvester steht vor der Tür. Höchste Zeit nachzudenken, wie wir feiern wollen. Hast du eine Idee?“
„Keinen Plan. Ich bleibe zu Hause mit Mutter.“
„Mit Mutter? Na, das lasse ich nicht zu. Dann kommst du zu uns! Wenn du nicht kommst, holen Lena und ich dich höchstpersönlich ab, du kommst uns nicht davon, denn wir brauchen dich dringend.“
„Das hättest du auch gleich sagen können.“
„Vadim! Erweise uns einen Freundschaftsdienst, versetze dich mal in die Vergangenheit! Weißt du noch, wie du früher im Kulturhaus Väterchen Frost gespielt hast? Das war wirklich klasse!“
„Ach, lass das! Vielleicht verleihst du mir noch den Titel `Volksschauspieler´?“
„Wenn du meinst - mach ich sofort! Ich rufe den Kanzler an und wir befördern dich zum deutschen Väterchen Frost. - Nein, im Ernst, Vadim, es ist unheimlich langweilig auf einem Neujahrsfest ohne unser Väterchen Frost. Und im Haus kommen bei mir bis zu sieben Kinder zusammen. Lass uns nicht im Stich!“
„Gut, ich mach’ s, für die Kinder“, willigte Vadim ein. „Aber merk es dir: Die Requisiten besorgst du.“
„Ich wusste, dass du meine Bitte nicht abschlagen würdest, ich wusste es! Danke!“
Vadim legte den Hörer auf den Telefontisch, stieg aus dem Bett und ging ans Fenster und schaute hinaus. Draußen schneite es: Der Winter bedeckte die Erde mit seinem feierlichsten Gewand.
Der junge Mann seufzte schwer. Sein Traum ließ ihm keine Ruhe. Ein smaragdgrüner Traum. Über ein Jahr wohnte er jetzt in Deutschland. Er hatte auch hier nach Larissa gesucht. Aber wie kann das gelingen, wenn man nur einen Vornamen kennt?
Am Nachmittag des 31. Dezember kam David und brachte Vadim den Mantel für die Väterchen - Frost – Rolle und den Sack mit Geschenken für die Kinder. Draußen begann es bereits zu dämmern, als der junge Mann sich verkleidet hatte und im Spiegel kritisch begutachtete.
„Willst du so fahren?“ fragte seine Mutter verwundert, als sie Vadim im Kostüm sah.
„Was werden die Leute sagen?“
„Ach, nichts werden sie sagen“, schmunzelte der junge Mann in seinen grauen Vollbart. „Es ist ja Neujahrsfest – Silvester!“
Vor einem Plattenbau, in dem David mit seiner Familie wohnte, lagen lockere Schneewehen. Hell beleuchtet von Straßenlaternen lag der Hof vor Vadim. Als er auf dem von Schnee befreiten Fußweg zum Hauseingang ging, sprach ihn ein kleines Mädchen an, das an der Tür stand:
„Onkelchen! Sind Sie der Nikolaus? Der richtige Nikolaus?“
„Nein, ich bin Väterchen Frost. Väterchen Frost aus Russland“, beugte sich Vadim lächelnd zu dem Kind hinunter und sah ihr in die Augen. Sie waren grün, wie zwei Smaragde.
„Kannst du auch Wünsche erfüllen?“ fragte das Mädchen, mit ihren langen Augenwimpern blinzelnd.
„Was wünschst du dir denn?“
„Ich vermisse meinen Papa“, sagte das Mädchen ernst. „Mach bitte so, dass sich mein Papa findet“.
„Wo ist denn deine Mama?“ fragte Vadim hilflos und verwundert über die Bitte des Kindes.
„Sie kommt gleich. Wir gehen spazieren.“
„Willst du Bonbons?“ fragte Vadim. Er griff in den Sack, holte ein paar Süßigkeiten heraus und legte sie dem Mädchen in seine ausgestreckten, zusammen gelegten Handflächen. Er machte einen Schritt zur Tür, aber sie sprach ihn wieder an:
„Gehst du jetzt weg?“
„Ja, andere Kinder warten auch auf mich.“
„Kommst du mich auch besuchen?“
„Wo wohnst du denn?
„In diesem Haus. Mein Name ist Folkner, meine Mama heißt Larissa. Merkst du dir das?“
Sein Herz krampfte sich in seiner Brust zusammen. „Larissa! - Ist das vielleicht meine Larissa?! Nein, das kann nicht sein!“
Im zweiten Stock öffnete ihm David die Tür.
„Komm herein! Die Kinderschar wartet bereits auf dich.“
„Warte mal!“ bremste Vadim seinen Freund. „In eurem Haus wohnt eine Familie Folkner. Kennst du sie?“
„Sie sind seit einem Monat eingezogen. Das Mädchen ist so ein liebes, offenes Kind.
Die Mutter aber. Sie bekommt viel Besuch. Eine schöne Frau, du weißt ja, wie es so ist.“
„Nein! Das ist nicht meine Larissa“, Vadim beruhigte sich. „Meine Larissa ist anders.“
Zwei Stunden vergingen wie im Fluge. Vadim unterhielt die Erwachsenen und die Kinder und verteilte die Geschenke. Dann erinnerte er sich an die Bitte des Mädchens mit den grünen Augen und fragte David nach seiner Wohnung.
Er ging in seinem Kostüm die Treppe hinauf, klingelte. Die Tür öffnete ihm - Larissa.
Seine Larissa! Sie war noch schöner geworden. Sie war so schön, wie keine andere auf der ganzen Welt.
„Was wollen Sie?“ fragte die junge Frau erstaunt.
Er konnte nicht mehr atmen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er stand da und blinzelte nur mit seinen Augen. Im Kopf aber klopften Davids Worte wie Hämmerchen: „Sie bekommt viel Besuch. Du weißt ja, wie es so ist.“
„ Väterchen Frost! Er ist zu mir gekommen.“ Neben Larissa erschien das kleine Mädchen mit den grünen Augen. Sie nahm Vadim an die Hand und führte ihn in die Wohnung.
„Es ist merkwürdig, dieses Väterchen Frost“, sagte die Frau zu dem Kind und sah Vadim aufmerksam an.
Vadim zitterten Knie und Hände. Noch immer konnte er kein Wort über die Lippen bringen. Er setzte sich auf ein Sofa, an dem ein Tisch mit einer Nähmaschine stand. Mehrere, unordentliche Schnitte lagen darauf. Vadim schloss die Augen.
„Hallo!? Sind Sie betrunken?“ Wie im Schlaf hörte er Larissas Stimme. „Gehen Sie!
Gehen Sie sofort hinaus!“
„Mama!“ quengelte das Mädchen. „Warum jagst du ihn weg? Väterchen Frost ist zu mir gekommen, ich habe mit ihm draußen gesprochen.“
„Darf ich einen Schluck Wasser bekommen?“ fragte Vadim heiser.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ Die Frau änderte ihren Ton. Sie flitzte in die Küche.
Das Mädchen lief zu Vadim, setzte sich auf seine Knie und drückte das Gesicht
an seine Brust: „Warte, Väterchen, gleich geht es dir besser. Gleich ist wieder alles gut.“
Larissa kehrte mit einem Glas Wasser ins Wohnzimmer zurück. Vadim ließ das Mädchen von seinen Knien hinunter, stellte das Glas auf den Boden und riss mit einem Ruck die Maske mit dem Schnurrbart und dem Vollbart vom Gesicht.
„Vadim!“ rief die Frau. „Woher kommst du, Vadim?“
„Geh weg von diesem Mann!“ befahl sie dem Mädchen eine Sekunde später. „Dieser Mensch hat uns vor fünf Jahren verlassen. Er wollte nichts von uns wissen.“
Tränen liefen aus ihren Augen. Sie schluchzte und wiederholte: „Geh, Vadim, geh weg!“
Vadim ging zur Tür. Sein Herz schlug wild. Er wollte nicht mehr leben.
Ein Traum! Ein smaragdgrüner Traum. Nur ein Traum!
An der Tür blieb er stehen und rief: „Ich saß damals im Gefängnis! Hörst du, ich war nicht frei! Danach habe ich dich gesucht, aber nicht gefunden.“
Er schlug die Tür mit Gewalt zu. Er stürmte auf die Straße. Es schneite wieder. Der Wind blies ihm heftig ins Gesicht. Schneeflocken tanzten im Laternenlicht. An einer Bank blieb er stehen und setzte sich.
Als erstes kam das Mädchen nur in einem Kleidchen aus dem Haus gelaufen, setzte sich neben ihn, drückte sich an seinen roten Pelz: „Mir ist kalt, Papa!“
Er öffnete den Pelz, sie schmiegte sich an ihn. In diesem Moment wurde Vadim bewusst, dass er ohne Larissa und ohne dieses Kind mit den smaragdgrünen Augen nicht weiter leben konnte! Sogar, wenn Larissa andere Männer gehabt hätte, würde er ihr verzeihen. Das Kind aber sagte leise, als wenn es seine Gedanken gehört hätte: „Ich habe die beste Mama auf der Welt. Weißt du, wie gut sie nähen kann? Alle sind zufrieden – Onkel und auch Tanten.“
Ein Traum! Ein smaragdgrüner Traum! Ein süßer Traum!
Aus dem Russischen übersetzt von Helena Abrams